SNF-Forschungsprojekt: Erzählen jenseits des Nationalen. (Post-)Imperiale Raumstrukturen in der Literatur Osteuropas
Das Projekt unter Leitung von Prof. Dr. Thomas Grob wurde von 2012 bis 2015 vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert.
Das Projekt stellt die Frage nach vergleichbaren Raumstrukturen im kulturellen Gedächtnis in den postimperialen bzw. postsozialistischen Regionen Mittel-, Ost- und Südosteuropas, wobei sich der Imperiumsbegriff auf übernationale Gebilde in Osteuropa (Habsburger Monarchie, Osmanisches und Russisches Reich, Polen-Litauen u. a.) wie auch auf die sowjetische Einflusssphäre und Jugoslawien bezieht. Von besonderem Interesse sind dabei Phänomene, die jenseits nationaler Grenzziehungen verlaufen und in jüngster Zeit wieder zunehmend ins Blickfeld geraten.
Solche transnationalen Gedächtnisräume sind von erstrangiger Bedeutung für das kulturelle Verständnis und die Konzeptualisierung eines sich vereinigenden Europas: In seinem ‚Osten‘ verfügt Europa über transregionale und transnationale Erfahrungen, die nicht allzu lange zurückliegen. Das Projekt setzt hier an und ist somit von Anfang an transnational angelegt.
Zentrales Gegenstandsfeld ist die Literatur mit ihrem besonderen Vermögen, komplexe, mehrschichtige, ja paradoxale und phantastische Räume zu modellieren, wie sie das kulturelle Gedächtnis enthält. Literatur soll daraufhin befragt werden, wie sie in ihrer spezifischen Medialität Raumstrukturen des kulturellen Gedächtnisses mitkonstruiert, reflektiert, imaginiert, konterkariert, und welcher narrativen Strategien sie sich dabei bedient.
In jüngster Zeit haben verschiedene Forschungsrichtungen – etwa historische oder politologische – den Versuch unternommen, den Begriff des Imperiums jenseits der traditionellen Imperialismuskonzepte oder gängiger Konzepte des ‚Kolonialen‘ neu zu fassen. ‚Imperium’ wird dabei nicht zuletzt als immer verschiedene raumzeitliche Struktur verstanden, die spezifische Formen der Kommunikation, der sozialen und räumlichen Mobilität und Durchlässigkeit, kollektiver Identitäten und der Erfahrung des Anderen hervorbringt. Ein solcher Ansatz muss auch für eine kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft entwickelt werden, erlaubt er doch, die kulturelle Konstruktion von Raum und die Imaginationen von kollektiver Identität, Differenz und Macht in einem neuen Rahmen zu analysieren. Dabei ist insbesondere von der narrativen Dimension imperialer Imaginationen auszugehen. In Bezug auf die durch lange imperiale Erfahrungen geprägten Kulturregionen in Ost-, Südost- und Mittelosteuropa (Russisches und Osmanisches Reich, Habsburg, Sowjetunion bzw. die sowjetische Einflusssphäre, Jugoslawien) ist dies von besonderer Relevanz. Hier verspricht ein narratologisch orientierter Zugang, der sich von der traditionellen Dichotomie ‚imperial‘ vs. ‚national’ und damit von vorgefassten Axiologien löst, reichere und zugleich präzisere Analysen als die vorliegende Anwendungen postkolonialer Ansätze mit ihrem fast durchgehend unscharfen und unterkomplexen Imperiumsbegriff.
Das vorliegende Projekt fokussiert auf die narrativen Strukturen imperialer Diskurse und auf die imperialen Spuren in verschiedenen Narrativen. Die Basis für die Analyse bilden Elemente literarischen Erzählens, die (post-)imperiale Konstellationen reflektieren. Über einschlägige Erzählverfahren auf verschiedenen Ebenen (Sujetbildung, Aktantisierung, Fokalisierung, Axiologie, Raumbildung), über Motiviken (Biographie, Tausch, Vermittlung, Mobilität), über typische Figuren und Gesten von Inklusion und Exklusion oder Zentrum und Peripherie soll ein Formeninventar imperialen – und damit immer auch transnationalen – Erzählens nachgezeichnet werden, das über die jeweilige regionale und historische Spezifik hinaus innere ‚Familienähnlichkeiten‘ aufweist. Die Relevanz der Literatur für eine breite kulturelle Betrachtung liegt einerseits in der besonderen Rolle begründet, die das literarische Erzählen – insbesondere in Fragen des ‚Nationalen‘ – in diesen Kulturen spielt, andererseits darin, dass Literatur mehrschichtige, paradoxale und phantastische Räume modellieren, aber auch mythenbildend und in diesem Sinne komplexitätsreduzierend operieren kann. Betrachtet werden aber auch narrative Formen über die Literatur hinaus, ganz besonders im Umfeld von Historiographie, Philologien und Publizistik.
Dabei sollte sich an konkreten Beispielfeldern zeigen lassen, dass auch nationale Narrative sich nicht nur in kategorischer Absetzung zum Imperium konstituieren, sondern in komplexer Weise auf das Imperiale bezogen bleiben, manchmal gerade dann, wenn die Kategorie des Nationalen zu dominieren scheint. Solche Aspekte (post‑)imperialer literarischer Räume gelangen in einer national ausgerichteten Literaturgeschichtsschreibung naturgemäß kaum ins Blickfeld. Das Projekt beinhaltet Fallstudien zum Verhältnis imperialer und nationaler Narrative in der südslavischen Romantik, in Bildern des Epochenbruchs von 1917/18 insbesondere im habsburgischen Raum sowie in der russischen Kaukasusliteratur. Durchgeführt wird es mit lokalen und internationalen Kooperationen (Osteuropäische Geschichte der Universität Basel, wo ein Projekt zu imperialen Biographien im Entstehen ist; Basler Islamwissenschaft; Slavistik der Humboldt-Universität in Berlin; Zentrum für Literatur- und Kulturforschung ZfL in Berlin), wo ähnlich gelagerte Fallstudien entstehen. Das Projekt ist vorerst auf drei Jahre angelegt und wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert.
Prof. Dr. Thomas Grob (Leitung)
PD Dr. Boris Previšić
Dr. des. Anna Hodel
lic. phil. Jan Miluska
Das Projekt war Teil des Kompetenzzentrums Kulturelle Topographien der Universität Basel und wurde in enger Zusammenarbeit mit zahlreichen Kooperationspartnern aus der Schweiz und dem Ausland durchgeführt:
- Seminar für Nahoststudien, Universität Basel (Prof. Dr. Maurus Reinkowski)
- Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Universität Basel (Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk)
- Institut für Slawistik der Universität Innsbruck (Prof. Dr. Andrea Zink)
- Institut für Slawistik der HU Berlin (Prof. Dr. Susanne Frank)
- Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (Dr. Franziska Thun-Hohenstein, Dr. Zaal Andronikashvili)war